Normalsein – ein Horkrux unserer Zeit

„Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr.“ (Vincent van Gogh)

Ist es denn jetzt schlecht, normal zu sein? Ist es überhaupt so schwer, normal zu sein?

Während sich die einen nie darüber Gedanken machen, ist es für andere eine Herkulesaufgabe, ihre Persönlichkeit so zu verbiegen, dass sie endlich „dazugehören“. Und dabei merken wir nicht einmal, dass uns dieses Uniformitätsstreben unsere Individualität kostet; unsere Einzigartigkeit.

Aber um erst einmal die Basics gemacht zu haben, hier einmal die Definition frisch aus dem Duden: „Etwas ist normal, wenn es die Allgemeinheit als das […] Richtige ansieht.“

Man sieht aber häufig, dass nicht zählt, was die Allgemeinheit als das Richtige ansieht, sondern das, wovon eine Einzelperson denkt, dass es das einzig Richtige sei; aber klar: Ad-populum-Argumente wirken einfach besser, wenn man seine eigene Meinung durchsetzen will.

Das eigene Streben, normal sein zu wollen, setzt voraus, dass man vorher signalisiert bekommen hat, dass man nicht schon längst normal ist. Ja, und das ist auch im Groben das Prinzip, nach dem Mobbing funktioniert.

Es ist ein wiederkehrendes Konzept; unter Jugendlichen wie unter Erwachsenen:

„Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht“. Der gemeine Mensch hält sich nicht nur von dem, was er nicht kennt, fern. Nein, er muss es sogar bekämpfen, denn nichts ist für ihn so bedrohlich wie ein Teenager, der sich die Haare alle vier Wochen nach den Farben des Regenbogens färbt. Denn die persönliche Freiheit, was man mit seinen Haaren macht, geht natürlich nur so weit, wie es die Allgemeinheit billigt; aber was ich mit „Allgemeinheit“ meine, habe ich bereits erläutert.

Als weiteres Beispiel kann man hier die öffentliche Reaktion auf Abtreibungen nehmen.

Manche Abtreibungsgegner*innen argumentieren, dass „Abtreibungen nicht normal werden sollen.“

Zur Erinnerung: „Etwas ist normal, wenn es die Allgemeinheit als das Richtige ansieht.“

Abtreibungen sollen also nicht das „Richtige“ werden.

Aber mit welchem Recht kann denn die Allgemeinheit entscheiden, ob die Abtreibung eines Kindes richtig ist?

Nun hat man erst einmal die hyperkritische Meinung der anderen überwunden und steht dann vor einem neuen Problem:

Wenn man sich als besondere Person fühlt (die wir wohlgemerkt alle sind), muss man sehr aufpassen, dass man in den Augen der anderen auch so wahrgenommen wird. Schließlich ist niemand gern eine „basic bitch“. (basic bitch = man denkt, dass man besonders sei, ist aber stinknormal; stinknormal = schlecht)

Dieser Inbegriff der Doppelmoral zeigt mal wieder, dass es nahezu unmöglich ist, es allen recht zu machen. Wenn jede x-beliebige Person entscheiden kann, ob du nun individuell genug bist oder dein Strahlen schon wieder in der graubtrüben Menge untergeht, dann versuchst du irgendwann selbst, dein Licht zu dimmen. Niemand von uns sollte in so eine Situation kommen. 

Sich wegen seiner eigenen Fehler zu verurteilen, ist meist hart; aber sich wegen der Urteile anderer fertig zu machen, ist noch viel schädlicher. Denn wenn zu viele unterschiedliche Meinungen an einem ziehen, kann es sein, dass man irgendwann Risse bekommt. 

Nicht „dünn genug“ zu sein, führt viel zu häufig zu Magersucht; nicht dieselben Interessen wie die anderen auf dem Schulhof zu haben, führt schnell zu Einsamkeit. Unsere Identität hat so viele Facetten, dass man vielleicht nie komplett „normal sein“ kann. Es ist quasi ein Anna-Karenina-Prinzip des Normalseins: Um tatsächlich normal zu sein, muss alles stimmen. Nur eine Abweichung genügt und die Leute werden dir schon sagen, dass du „unnormal bist“.

Auf der anderen Seite findet man zuhauf Beispiele, in denen deklamiert wird, dass jeder sich selbst finden, sich selbst entfalten, sich selbst verwirklichen soll. Aber wie soll das denn als einzige Homosexuelle im homophoben Familienkreis oder als einzige muslimische Familie im Dorf funktionieren?

Die deutsch-bürgerliche Sittlichkeit darf für viele nicht gebrochen werden, doch diese verkrusteten Vorstellungen vom „richtigen Leben“ sind in unserer heutigen Gesellschaft obsolet.

Ja, es sollte sich jeder selbst verwirklichen können und nein, dabei ist es egal, was andere dazu sagen. „Shine bright like a diamond.“

Nur leider sind wir Menschen gesellschaftlich orientierte Wunderwesen und deshalb ist es in manchen Situationen schwer, zu sich selbst zu stehen. Wenn die Hälfte der Klasse sagt, dass man sich als Ausländer*in zurück in die Heimat verkriechen soll, dann kann man so hell strahlen wie man will; das Licht wird dann leider nicht reflektiert und dann wird nichts aus dem Funkeln des „diamonds“.

Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was alles normal ist. Ich habe auch keine Ahnung, ob man sich besser fühlt, wenn man ganz normal ist.

Aber ich denke, man sollte nicht nach endgültiger Normalität streben, denn unsere Individualität und unsere Vielfalt sind viel mehr wert, als zu irgendeiner Gruppe dazuzugehören. 

Zu sich selbst zu stehen, mit sich selbst gut klar zu kommen und sich mit seiner Identität vor anderen behaupten zu können, verschafft einem zumal viel mehr Anerkennung als es irgendeine Anpassung anderen zuliebe jemals könnte.

„Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“   – Mahatma Gandhi

von Alexander Scheffler

One thought on “Normalsein – ein Horkrux unserer Zeit

  1. Super Text. Er hat mich echt zum Nachdenken angeregt und ich finde, du hast Recht! Niemand sollte nach Normalität streben. Einzigartig zu sein ist meiner Meinung nach viel einfacher und spannender.

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